Laufen? Kann doch wohl jeder!
...aber ist das wirklich so?
Meiner Meinung nach will auch laufen gelernt sein.
Bei koordinativ anspruchsvollen Sportarten denken die meisten gleich an akrobatische Kunststücke, Freestyle Snowboarden, Eiskunstlaufen oder vielleicht sogar jonglierende Straßenkünstler. Was genau soll am Laufen koordinativ anspruchsvoll sein? Nun, wenn man sich einmal an den Rand eines 10km Laufwettbewerbes, Halbmarathons oder Marathons stellt, wird man sehr schnell feststellen, wie sehr sich die Läufer in ihrem Laufstil voneinander unterscheiden. Während die einen fast über die Strecke zu fliegen scheinen, kleben andere mit jedem Schritt am Boden fest. Unabhängig von Körpergröße und Gewicht erscheint es einem, als hätte ein Läufer mehr mit der Schwerkraft zu kämpfen als der andere.
Aber halt! Was steckt eigentlich hinter einer koordinativen Fähigkeit? "Koordination" ist ein Sammelbegriff für viele koordinative Fähigkeiten - nicht nur eine einzige. Und die sind in den unterschiedlichen Sportarten auch unterschiedlich stark ausgeprägt und gefordert.
Die 7 grundlegenden koordinativen Fähigkeiten sind:
- die kinästhetische Differenzierungsfähigkeit
- die Reaktionsfähigkeit
- die Kopplungsfähigkeit
- die Orientierungsfähigkeit
- die Gleichgewichtsfähigkeit
- die Umstellungsfähigkeit
- die Rythmisierungsfähigkeit
Beim Erlernen eines gesunden und vor allen Dingen ökonomischen Laufstils zählt es vor allen Dingen die eigenen Körperteile und deren Bewegungen bewusst empfinden und kontrollieren zu können (kinästhetische Differenzierungsfähigkeit = Bewegungsempfinden). WO genau setzt mein Fuß auf? WIE genau setzt mein Fuß auf? Drücke ich mich wirklich vom Boden in Richtung Laufbewegung ab? Nutze ich meine An- und Vortriebsmuskulatur? Strecke ich meine Gelenke? Oder denke ich das nur? Was machen meine Arme und Schultern? Wie und wohin atme ich - flach, tief, in den Brustkorb oder in den Bauch?
Unser Körper ist ein Ganzes und so kann das, was die Armhaltung vorgibt von den Beinen immitiert werden - das kann positive aber auch negative Auswirkungen auf unseren Laufstil haben. Auch die Atmung spielt eine unglaublich große Rolle. Wie verkrampft oder entspannt entsprechende Muskulatur ist. Unserem Vortrieb hilft es herzlich wenig, wenn wir mit angespannter Nacken- und Oberkörpermuskulatur laufen. Während die einen Muskeln arbeiten sollten sich anderen durchaus locker machen und entspannen können. Das fühlt sich nicht nur besser an, es spart auch noch jede Menge Energie!
Zudem gibt es da auch noch die intra- und intermuskulären Koordination. „Intra“ bezieht sich hierbei auf das Zusammenspiel einzelner Muskelfasern innerhalb eines Muskels und „inter“ auf die Koordination zwischen einzelnen Muskeln und Muskelgruppen.
Man kann dieses Zusammenspiel auch sehr gut mit der Zusammenarbeit eines Baustelle-Teams vergleichen. Zufälligerweise befindet sich seit einiger Zeit ein solches direkt vor meiner Tür. Seit Ende letzten Jahres beobachte ich die Bauarbeiter, meistens sind es fünf an der Zahl, und bewundere deren Arbeitsflow. Ich habe selten ein so gut funktionierendes Team gesehen. Alles scheint reibungs- und nahtlos ineinander überzugehen. Jeder Handgriff sitzt. Egal, wann ich aus dem Fenster schaue, die Arbeiter sind hochkonzentriert bei der Sache.
Nach ein paar Monaten, der Hausbau war inzwischen beim zweiten Stockwerk angelangt, machte sich jedoch etwas bemerkbar. Einer der Arbeiter, ein etwas ruhigerer kleinerer Genosse, bekam plötzlich Ärger mit einem hochgewachsenen übereifrigen Arbeiter, der der Meinung war, sein Kollege wäre nicht fleißig genug und daher würde er selbst immer erst so spät von der Baustelle nach Hause kommen. Dieser Zustand steigerte sich irgendwann bis zu einer fast handgreiflichen Auseinandersetzung. Nun, der vorherige FLOW wie ich ihn auf dieser Baustelle erlebt hatte, das reibungslose Arbeiten, kam plötzlich zum Stillstand. Jetzt galt es erst einmal den Frieden wieder herzustellen. Für einen Moment stand die Baustelle also still bis der Ärger und die gereizte Stimmung geregelt waren.
Aber, was hat das jetzt mit intra-/intermuskulärer Koordination zu tun?
Auch wir, als Läufer, haben im Laufe unseres Lebens bestimmte Haltungs- und Bewegungsformen eingeschliffen. Wir haben große starke Muskeln regelmäßig benutzt und für uns arbeiten lassen, während andere vernachlässigt wurden. Irgendwann machen Muskeln die durchaus wichtige Funktionen haben, nicht mehr mit. Bis es Krach, Ärger und Gereiztheit bei den ständig beanspruchten Muskeln gibt. Wie auf der oben beschriebenen Baustelle. Keiner hat Lust auf Dauer die Arbeit der anderen zu übernehmen. Ein Team ist nicht ohne Grund ein Zusammenschluss mehrerer Mitarbeiter. Jeder hat eine Funktion und wenn er diese bestmöglichst erfüllt, ist das Gesamtergebnis ebenfalls das Bestmögliche.
Auffällig bei den meisten von uns ist:
A) Das viele tägliche Sitzen beim Essen, Autofahren, am Schreibtisch…you name it!
B) Dass das meiste Tun in unserem Gesichtsfeld, also immer VOR unserem Körper stattfindet.
C) Dass wir uns weder hängen, noch stützen, noch überstrecken.
Das heißt, eine ganze Vielzahl and Muskeln sowie auch die Beweglichkeit unserer Gelenke, kommt nur eingeschränkt bis gar nicht zum Einsatz
Fazit: Muskeln die wir nicht benutzen verkümmern, Muskeln deren Ursprung und Ansatz dauernd aneinander angenähert sind (z.B. der Hüftbeuger oder die Brustmuskulatur) verkürzen, und sämtliche Muskeln unserer Körperrückseite werden latent vernachlässigt sowie auch kleinere Hilfsmuskeln die unsere Gelenke schützen sollten. Gelenke die in der Lage sein sollten Zug und Druck stand zu halten, beginnen bei der leisesten „Über“anspruchung an zu schmerzen. Wundert es uns, dass wir in diesem Zustand keine optimale und gesunde Laufhaltung zustande bringen? Komisch...denn, die meisten wundert es tatsächlich.
Bevor ein hoffnungsvoller Läufer sich nach jahrelanger Sportabstinenz die Laufschuhe schnürt und das große Kilometersammeln für ein neu gestecktes Ziel beginnt, sollte er noch einmal kurz innehalten. Sich hier und jetzt professionellen Rat zu holen, einen Check-up zur derzeitigen körperlichen Verfassung machen zu lassen, ist nicht nur gesünder sondern meines Erachtens nach essentiell. Der erste Gang sollte zum Sportarzt gehen um sich dort auf Herz & Nieren testen zu lassen. Der zweite Gang sollte der zu einem Fachmann/einer Fachfrau sein, der/die sich mit dem Laufsport und der läuferischen Belastung auskennt. Denn hier wird mit dem geschulten Auge sehr schnell erkannt wo es eventuell hakt. Welche Muskeln machen gut mit, welche sind im Dornröschenschlaf versunken? Wo klemmt es an der Beweglichkeit und koordinativen Mindestanforderungen?
Als wir das Laufen erlernten, passierte dies nicht, indem unsere Eltern die Gesamtbewegung für uns in Teilbewegungen herunter gebrochen, erklärt und diese mit uns geübt haben. Vielmehr haben wir über trial-and-error gelernt. Zu weit nach vorne verlagert – PLUMPS einmal auf den Bauch geklatscht. Gewicht zu weit nach hinten verlagert – PLUMPS einmal auf die dicke Pampers gesetzt. Doch irgendwann, fast forward, hat es dann geklappt und von da an wurde nicht mehr weiter darüber nachgedacht, wir sind einfach gelaufen. In den Kindergarten, in die Schule, zum Job, zum Einkaufen….aber was ist dann passiert? Mit den Jahren?
Nachgewiesenermaßen haben Nerven, die bestimmte Muskeln häufiger innervieren, eine dickere Myelinschicht. Das macht sie vergleichbar mit einer Autobahn. Die Reizleitung funktioniert um ein vielfaches schneller, als die von nicht so oft genutzten Nervenfasern, zu Muskeln, die eben scheinbar nicht so oft gebraucht werden. Diese verkümmern zu holprigen Landstraßen auf denen man eben keine 120kmh und schneller fahren kann. Im Laufe der Zeit wird die bewusste Ansteuerung vernachlässigter Muskeln immer schwieriger. Und das sind so einige - denn beim Sitzen benötigt man nicht viel. Das geht so weit, dass wir bei einer plötzlich ungewohnten/neuen Zielbewegung bestimmte Muskeln überfordern (beim Laufen: Oberschenkelvorderseite und Außenseite/Iliotibialband) und andere garnicht wirklich nutzen (Hüft-, Gesäßmuskeln + Muskulatur der Oberschenkelrückseite).
Wir laufen ein bisschen so, als hätten wir ein Auto mit sechs funktionierenden Gängen, aber wir fahren bei 120kmh im vierten Gang über die Autobahn. Resultat: Wir verbrauchen wahnsinnig viel Sprit UND machen unseren Motor kaputt. Unsere Gesäßmuskulatur und unsere Oberschenkelrückseite, die bei Fußaufsatz für die STRECKUNG des Beines nach hinten verantworlich sind, sind unser nicht genutzter fünfter und sechster Gang! Die gute Nachricht ist: wenn wir es trainieren, können wir auch wieder zwei Gänge höher Schalten und uns so bewegen, wie es die Natur im Laufe der Evolution für uns vorgesehen hat.
Last but not least: Ein koordinatives Training muss gar nicht langweilig sein, vor allem dann nicht, wenn man dies in einer Gruppe mit Gleichgesinnten macht :-)